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Das Topographische, der Bezug auf Räume und Orte, auf Regionen und Landschaften, hat seit einigen Jahren in unterschiedlichen Disziplinen neue Aufmerksamkeit erlangt. Nicht nur in den Kultur-, den Sozial- und den Geowissenschaften, auch in den Geschichts- und den Medienwissenschaften ebenso wie in einer allgemeinen öffentlichen Diskussion ist die Kategorie ‚Raum’ in vielfältiger Weise zum Thema geworden. Nachdem noch vor wenigen Jahren im Kontext von Globalisierung und digitaler Revolution vom 'Verschwinden des Raumes' (Virilio) und vom 'Ende der Geographie' (Flusser) gesprochen wurde, hat seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ein neues Raumparadigma besonderen Stellenwert erlangt. In beinahe allen kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen ist eine unübersehbare Renaissance raumtheoretischer Fragestellungen bzw. von Diskursen der Verräumlichung zu beobachten. Die Kategorien 'Raum' und 'Räumlichkeit' sind – nicht zuletzt durch die massiven globalen geopolitischen Veränderungen - überall stark ins Blickfeld gerückt. Dabei stehen verschiedene theoretische Konzeptionen nebeneinander und tragen durchaus unterschiedliche Labels. 2002 hat Sigrid Weigel für die Kulturwissenschaften den "topographical turn" proklamiert, während der Historiker Karl Schögel 2003 in der Nachfolge des Sozialwissenschaftlers Edward Soja (1996) den "spatial turn" postulierte, und kürzlich hat der Medienwissenschaftler Stephan Günzel 2005 den "topological turn" formuliert. Unabhängig von der Benennung, viele Schritte zu einem transdisziplinären Theoriegebäude sind bereits vollzogen. Auch in der Literaturwissenschaft, in der Untersuchungen unter der Kategorie 'Räumlichkeit' seit langem etabliert sind, hat die aktuelle interdisziplinäre Topographiediskussion zu einer starken Neu-Fokussierung auf Fragen nach der Beziehung von Literatur und Raum geführt und gleichzeitig eine Neudefinition des Verhältnisses von Literaturwissenschaft und Raumtheorie befördert. Das germanistische Symposion der DFG 2004 stand unter dem Thema "Topographien der Literatur", für das der Herausgeber Hartmut Böhme in seiner Einleitung formuliert: "Kulturen sind <...> zuerst Topographien, Raumkerbungen, Raumschriften, Raumzeichnungen." Dabei ist Raum nicht einfach gegeben, sondern entsteht erst - durch Aneignung, durch Mühe und Arbeit, durch die Bewegung, durch den Körper. Die vieldiskutierte Wende zum Raum beruht also auf der Annahme, dass Raum nicht einfach da ist, sondern konstituiert wird und erfahren werden muss. Nicht der natürliche, physikalische Raum als Ausdehnung und universaler 'Behälter' aller Dinge bestimmt das Untersuchungsinteresse, sondern Raum als eine kulturell konstruierte und determinierte sowie historisch veränderbare Kategorie. Einer in dieser Weise definierten topographischen Akzentuierung nach können räumliche Konfigurationen ausdrücklich die Basis der Analysen kultureller Formationen bilden. Dabei können Topographien vielfältig verstanden werden: als Aufzeichnungssysteme, als Ordnungsverfahren, als Repräsentationen, als Verortungen, als Darstellungen, als Orientierungen. Aktuell gehört der starke Bezug auf Raum und Ort sicher zu den interessantesten und aufschlussreichsten Tendenzen in der zeitgenössischen europäischen Literatur, in der sich eine veränderte Sicht auf unsere Gegenwart manifestiert. Wichtigste Ursache hierfür sind die rapiden und gravierenden Umbrüche auf dem Kontinent an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, zunächst in politisch-territorialer Hinsicht und in der Folge davon in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen. Die jüngere kontinentale Geschichte muss – das hat der Prozess der europäischen Einigung deutlich gemacht – neu geschrieben werden, sind doch die Wahrnehmungen und Auffassungen von vermeintlich identischer Geschichte in den verschiedenen Ländern und Kulturen unterschiedlich und disparat. Ihren Beitrag hierzu leisten viele aktuelle literarische Texte, Romane und Erzählungen, die sich Welt des Sichtbaren, des Räumlich-Erfahrbaren zuwenden, den Landschaften und Städtebildern, den Topographien der Zivilisation und der Zerstörung, den neuen Gefügen und den Ruinen, den geläufigen, den sich verändernden, den unbekannten und den neu zu entdeckenden Territorien. Das wichtigste Medium der Welterkundung ist dabei das Reisen. Die Bewegungsform des Flaneurs, des Bummlers, das langsame Sich-den-Raum-Aneignen wird zur Erfahrungsmethode, und ein rhapsodisch-essayistischer Ton kennzeichnet die literarischen Expeditionen und Streifzüge. Eine solche Symptomatik für das Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts weist deutliche Analogien auf zu der Zeit der Annette von Droste-Hülshoff, zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch damals, im Spannungsfeld zwischen Revolution und Restauration, Biedermeier und Vormärz, bestimmten Brüche, Neuordnungen, Einschnitte und Transformationen maßgeblich die Signatur einer Epoche, in der – hervorgerufen durch die vielfältigen politisch-territorialen und tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen – kaum etwas Bestand hatte und Räume, Grenzen und Ordnungen einem raschen und ständigen Wandel unterzogen waren. Das Werk der Annette von Droste-Hülshoff ist in signifikanter Weise gekennzeichnet von Bezügen zu Räumen, zu Orten und zu Landschaften. Dieser Befund steht auch am Anfang einer Rezeptionsgeschichte, die einen engen Konnex zwischen Autorin und Region Westfalen zementiert hat und Droste plakative Zuschreibungen wie "Westfälische Heidenachtigall" (Freiligrath) und das Klischee einer weltfremden, konservativen Heimatdichterin einbrachte. Die Stilisierung der Autorin als Symbol- und Identifikationsfigur eines sich seit dem 19. Jahrhundert entfaltenden Westfalenbewusstseins ist geprägt von Harmonisierungsabsichten und Verklärungstendenzen, mit denen eine idyllisierend-romantisierende Droste-Sicht befördert wurde. Die auch in einem solchen Sinne 'topographische Droste' ist aber keinesfalls allein ein Erzeugnis spezifischer Rezeptionsprozesse. Sie selbst hat sich in literarischem Werk und Briefkorpus in vielerlei Hinsicht räumlich orientiert, expliziert und verortet; mannigfache Regionalbezüge und eine vielförmige Verarbeitung des Themas "Westfalen" sind offensichtlich. Das Regionalinteresse betrifft aber nicht allein die heimatliche Umgebung des Münsterlandes, sondern gleichermaßen diejenigen Orte und Regionen, die sich Droste als Reisende erschlossen hat. Dazu zählen als Teile Westfalens das Paderborner Land und das nördliche Sauerland, der Reiseweg des Rheins mit Köln und Bonn als Aufenthaltsorte sowie – ebenso prominent – die Bodenseeregion mit den Orten Meersburg und Eppishausen. Der Bezug zu Ort und Raum in seinen unterschiedlichen Formierungen ist oft unverzichtbare Voraussetzung für das Entstehen überdauernder Texte. Das betrifft sowohl ihre Lyrik als auch das Prosa- und das Briefwerk. Zu nennen sind die lyrischen Westfalen- und Bodenseebilder ebenso wie die landschaftsbezogenen Prosawerke "Bei uns zu Lande auf dem Lande", die "Westfälischen Schilderungen" und die "Judenbuche" sowie die Reiseschilderungen in ihrem Briefkorpus. Dabei haben ihre raum- und ortsbezogenen Texte eine zentrale Gemeinsamkeit: Sie stellen kaum einmal ein beschauliches, idyllisierend-affirmatives Landschaftsbild her, sondern es sind in sie stets die Brüche, die Irritationen und die Abgründe eingeschrieben. Auf der Grundlage dieser Überlegungen wird das Kolloquium den Repräsentationen, Motiven und Funktionen von Raum und Räumlichkeit in Leben und Werk der Annette von Droste-Hülshoff nachgehen und versuchen, deren Aneignung, Prägung und Wirksamkeit im Hinblick auf die Autorin neu zu konturieren. In der Perspektive eines spezifischen Raumblicks werden neue Erkenntnisse zu wesentlichen Aspekten ihres Lebens und Schaffens erwartet.
Publikation
Jochen Grywatsch (Hrsg.): Raum. Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff. Hannover: Wehrhahn 2009.
Mit Beiträgen von: Cornelia Blasberg, Heinrich Detering, Ulrich Gaier, Jochen Grywatsch, Lothar Köhn, Claudia Liebrand, Rüdiger Nutt-Kofoth, Ute Obhof, Ernst Ribbat, Franz Schwarzbauer, Mirjam Springer, Kirsten Wagner und Winfried Woesler
Rezensionen von: Jens Kloster, Marc Reichwein, Christina Riesenweber und Nils Rottschäfer
Der vorliegende Band dokumentiert das Kolloquium "Raum. Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff", das vom 17. bis 20. Mai 2007 in Meersburg stattfand. In vierzehn Beiträgen wurde den Repräsentationen, Motiven und Funktionen von Raum und Räumlichkeit in Leben und Werk der Annette von Droste-Hülshoff nachgegangen und deren Aneignung, Prägung und Wirksamkeit im Hinblick auf die Autorin umfassend neu konturiert.