Sylvesterabend
Am letzten Tage des Jahres
Da dacht' ich wie Mancher todt,
Den ich bey seinem Beginne
Noch lustig gesehn und roth,
Wie Mancher am Sargesbaume
Gelacht unterm laubigen Zelt,
Und wie vielleicht auch der meine
Zur Stunde schon sey gefällt.
Wer wird dann meiner gedenken
Wenn ich nun gestorben bin?
Wohl wird man Thränen mir weihen,
Doch diese sind bald dahin!
Wohl wird man Lieder mir singen,
Doch diese verweht die Zeit!
Vielleicht einen Stein mir setzen,
Den bald der Winter verschneit!
Und wenn die Flocke zerronnen
Und kehrt der Nachtigall Schlag,
Dann blieb nur die heilige Messe
An meinem Gedächtnißtag,
Nur auf zerrissenem Blatte
Ein Lied von flüchtigem Stift,
Und mir zu Häupten die Decke
Mit mooszerfressener Schrift.
Wohl hab' ich viele Bekannte
Die gern mir öffnen ihr Haus,
Doch wenn die Thüre geschlossen,
Dann schaut man nimmer hinaus,
Dann haben sie einen Andern
An meiner Stelle erwählt,
Der ihnen singt meine Lieder
Und meine Geschichten erzählt.
Wohl hab' ich ehrliche Freunde,
Die geht es härter schon an;
Doch wenn die Kette zerrissen,
Man flickt sie so gut man kann;
Zwey Tage blieben sie düster,
- Sie meinten es ernst und treu -
Und giengen dann in die Oper
Am dritten Tage auf's neu.
Ich habe liebe Verwandte,
Die trugen im Herzen das Leid,
Allein wie dürfte verkümmern
Ein Leben, so Vielen geweiht?
Sie haben sich eben bezwungen,
Für andre Pflichten geschont,
Nur schweben wohl meine Züge
Zuweilen noch über den Mond.
Ich habe Brüder und Schwestern,
Da gieng in's Leben der Stich,
Da sind viel Thränen geflossen
Und viele Seufzer um mich;
O, hätten sie einsam gestanden,
Ich lebte im ewigen Licht!
Nun haben sie meines vergessen
Um ihres Kindes Gesicht.
Ich hab', ich hab' eine Mutter,
Der kehr' ich im Traum bey Nacht,
Die kann das Auge nicht schließen,
Bis mein sie betend gedacht;
Die sieht mich in jedem Grabe,
Die hört mich im Rauschen des Hains -
O, vergessen kann eine Mutter
Von zwanzig Kindern nicht eins!
Sargesbaume] Sargesbaum: Baum, aus dem der Sarg gefertigt wird, der also schon zu Lebzeiten wächst.
die heilige Messe / An meinem Gedächtnißtag] In der katholischen Tradition wird anlässlich des ersten Jahrestags des Todes für den Verstorbenen eine heilige Messe als Jahresseelenamt gehalten.
Hier gelangen Sie zum Digitalisat der Erstveröffentlichung. Das Gedicht befindet sich auf Seite 337.